Einleitung
Dass Fritz Stuckenberg 1919 nach Seeshaupt zog, hatte viele Gründe. Vorangegangen waren Jahre in Berlin, in denen er sich von einem impressionistischen, den Kubismus reflektierenden Künstler zur Abstraktion hinwendete. Berlin war für ihn in vielerlei Hinsicht prägend. Seit 1916 gehörte er zum engsten Kreis der STURM-Galerie von Herwarth Walden und stand damit im Zentrum des Berliner Kunstbetriebs, er lernte zahlreiche Persönlichkeiten kennen und partizipierte an den internationalen STURM-Ausstellungen. Aber spätestens nach dem Ersten Weltkrieg wurde deutlich, dass die vielfältigen Aktivitäten Herwarth Waldens unterfinanziert waren und die beteiligten Künstler:innen monetär nicht profitierten. Fritz Stuckenberg wendete sich enttäuscht von dem Galeristen ab und begann, andere Zirkel zu suchen. Darin bestärkte und begleitete ihn sein enger Freund, der Lyriker und Kunsthändler Paul van Ostaijen. Mit ihm erlebte Fritz Stuckenberg die letzten, rauschenden Tage in Berlin, bevor er nach Seeshaupt zog.
„Die köstliche Amoralität oder besser Antimoralität unserer Freundschaft ist ein weißglutnacktes Nervendiagramm“,
schrieb Fritz Stuckenberg im Januar 1920 nach Berlin, wo sie den Jahreswechsel zusammen verbracht hatten und ihren „Sylvestersturm“ erlebten. Aber das Landleben versprach in der krisengeschüttelten Zeit nicht nur eine bessere Versorgungslage durch Lebensmittel. Hier ließ sich auch die Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin Erika Deetjen leichter geheim halten, solange der seit 1915 in erster Ehe verheiratete Fritz Stuckenberg nicht geschieden war. Dass Heinrich Campendonk, ebenfalls ein STURM-Künstler, hier lebte und als Mitglied der Künstler:innen-Gruppierung ‚Der Blaue Reiter‘ und der ‚Neuen Sezession‘ gute Kontakte nach München unterhielt, dürfte den Ausschlag für ihre Ortswahl gegeben haben.
Im August 1919 zog Fritz Stuckenberg nach Seeshaupt, wo er bis Mai 1921 blieb. Aus dieser Zeit sind 84 Briefe erhalten, die die Distanz zu Paul van Ostaijen in Berlin überbrückten. Sie zeichnen ein sehr lebendiges Bild vom Privatleben und den avantgarden Ambitionen dieser Künstler, die schreibend und malend nach neuen Ausdrucksweisen für eine sich rasant wandelnde Gesellschaft suchten. Dass die zwei in Berlin entstandenen Gedichtbände Paul van Ostaijens, ‚Die Feste von Angst und Pein‘ und ‚Besetzte Stadt‘, im letzten Jahr durch die Übersetzerin Anna Eble und den Schriftsteller Matthijs de Ridder neu herausgebracht wurden, vereinfacht den Zugang zu den Sprachwerken des flämischen Lyrikers. Sein Blick auf die Stadt an der Schwelle zwischen Kaiserreich und Demokratie ist von einer beeindruckenden Offenheit. Er begegnete dem Ende der Monarchie mit einem sprachlichen Trümmerfeld, das erste Anstalten macht, sich neu zu konstituieren. Paul van Ostaijen entwickelte eine Poesie, die die Gesetze der Grammatik, der Syntax und Typografie ignorierte. Aber er versuchte zugleich ihre Fragmente auf einen kreativen Nährboden zu streuen.
Obwohl Fritz Stuckenberg in den kommenden Jahren andauernde Existenzsorgen hatte, war er in dieser Zeit künstlerisch äußerst produktiv. Ein zentrales Thema seiner Werke ist die sexuelle Ekstase, die für ihn Ausdruck kreativer Energie war. In kubistischer Abstraktion werden verschlungene Körper in Bewegung versetzt und mit kosmischen Sphären assoziiert. Nicht immer reichte das Geld für Leinwände, im Winter konnte er das unbeheizte Atelier nicht nutzen und so emanzipieren sich die Farben im kleineren Aquarell-Format zunehmend von der Form. Während Fritz Stuckenberg mit der Farbautonomie in der abstrakten Malerei experimentierte, erprobte Paul van Ostaijen vergleichbares in der Poetik. In dieser Künstlerfreundschaft war Heinrich Campendonk ein ruhender Pol. Er profitierte von seinen frühen Verbindungen zum ‚Blauen Reiter‘ und war in der Berliner und der Münchner Kunstwelt gleichermaßen anerkannt. Er unterhielt hervorragende Kontakte zu privaten Sammlungen, Museen und Galerien. Und obwohl er sich für die Ideen Paul van Ostaijens begeistern ließ, mied er bindende Verpflichtungen. Aus den Plänen zur Gründung einer neuen Künstler:innen-Gruppe, hielt er sich raus. Aber Paul van Ostaijen und Fritz Stuckenberg tauschten sich sehr rege über mögliche Mitstreiter aus oder suchten nach einem passenden Namen. Fritz Stuckenberg schlug am 8. April 1920
„die Eiferer, die Leuchtenden, die Entrückten“
vor und Paul van Ostaijen antwortete am 12. April 1920:
„Eiferer finde ich zu naiv; die Leuchtenden zu pretentiös und die Entrückten zu weltfremd.“
Seine Alternativen:
„der Gong (das g vorne und hinten, wie das klingt) oder der Kataklump. Diese Namen sind nicht lächerlich zu machen, ohne dass der betreffende Kritiker sich lächerlich macht.“
Den künstlerischen und brieflichen Konversationen in Seeshaupt und Berlin unter dem Titel ‚Kataklump‘ eine Ausstellung zu widmen, ist eine späte Realisierung ihrer Pläne.
Es ist faszinierend zu beobachten, dass diese Freundschaften bis heute zu Verbindungen unter den nachlassverwaltenden Institutionen führen. Die städtischen Sammlungen in Delmenhorst und in Penzberg, die große Werkkonvolute von Fritz Stuckenberg und Heinrich Campendonk aufbewahren, erlebten bereits in den 1990er Jahren unter der Leitung von Barbara Alms und Gisela Geiger einen regen Leihverkehr. Und so lag es für das aktuelle Ausstellungsprojekt nahe, diese Verbindung wieder zu aktivieren. Annette Vogel, Leiterin des Museum Penzberg, hat meine Ausstellungsidee aufgegriffen und das Projekt nicht nur mit wichtigen Leihgaben unterstützt. Es ist im nächsten Jahr auch eine zweite Station in Penzberg geplant, für die wir Werke von Fritz Stuckenberg auf Reisen schicken werden. Das Letterenhuis in Antwerpen und einige private Sammlungen ergänzen diese Ausstellung mit lyrischen und typografischen Werken aus dem Kosmos Paul van Ostaijens. Ein großer Dank gebührt der Privatsammlung Köln / Cloppenburg und der Familie Stuckenberg, die ganz selbstverständlich wichtige Werke und Dokumente zur Verfügung stellten. Ohne die Niedersächsische Sparkassenstiftung, die ein großes Werkkonvolut von Fritz Stuckenberg als Dauerleihgabe an die Städtische Galerie in Delmenhorst übergeben hat, wäre diese Ausstellung nicht möglich gewesen. Hier möchte ich mich namentlich bei Johannes Janssen und Ulrike Schneider bedanken, die im Verbund mit der Landessparkasse zu Oldenburg Ausstellungen an unserem Haus regelmäßig und großzügig fördern. Mit der gleichen Ausdauer unterstützt der Freundeskreis Haus Coburg e. V. seit über 30 Jahren das Programm und die Profilierung der Städtischen Galerie in Delmenhorst.
Lena Reichelt gebührt mein Dank für die kuratorische Betreuung der Ausstellung, die grafisch durch Kay Bachmann geprägt wurde. Viktor Hömpler hat gemeinsam mit Christine Claussen und Ruben Lyon diese digitale Publikation entwickelt, die die Präsentation über die Laufzeit der Ausstellung hinaus sichtbar machen wird, aber hoffentlich nicht davon abhält, die Ausstellung und das Haus Coburg zu besuchen.