Kataklump: Einleitung

Kataklump

Heinrich Campendonk, Paul van Ostaijen, Fritz Stuckenberg
Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst
18. Mai – 18. August 2024

Einleitung

Dass Fritz Stuckenberg 1919 nach Seeshaupt zog, hatte viele Gründe. Voran­gegangen waren Jahre in Berlin, in denen er sich von einem impressio­nis­tischen, den Kubis­mus reflek­tierenden Künstler zur Abstraktion hin­wendete. Berlin war für ihn in vieler­lei Hin­sicht prägend. Seit 1916 gehörte er zum engsten Kreis der STURM-Galerie von Herwarth Walden und stand damit im Zentrum des Berliner Kunst­betriebs, er lernte zahl­reiche Persönlich­keiten kennen und partizipierte an den inter­nationalen STURM-Ausstellungen. Aber spätestens nach dem Ersten Welt­krieg wurde deutlich, dass die viel­fältigen Aktivitäten Herwarth Waldens unter­finanziert waren und die beteiligten Künstler:innen monetär nicht profitierten. Fritz Stuckenberg wendete sich ent­täuscht von dem Galeristen ab und begann, andere Zirkel zu suchen. Darin bestärkte und begleitete ihn sein enger Freund, der Lyriker und Kunst­händler Paul van Ostaijen. Mit ihm erlebte Fritz Stuckenberg die letzten, rauschenden Tage in Berlin, bevor er nach Seeshaupt zog.

„Die köstliche Amoralität oder besser Anti­moralität unserer Freund­schaft ist ein weiß­glut­nacktes Nerven­diagramm“,

schrieb Fritz Stuckenberg im Januar 1920 nach Berlin, wo sie den Jahres­wechsel zusammen verbracht hatten und ihren „Sylvester­sturm“ erlebten. Aber das Land­leben versprach in der krisen­geschüttelten Zeit nicht nur eine bessere Versorgungs­lage durch Lebens­mittel. Hier ließ sich auch die Schwanger­schaft seiner Lebens­gefährtin Erika Deetjen leichter geheim halten, solange der seit 1915 in erster Ehe ver­heiratete Fritz Stuckenberg nicht geschieden war. Dass Heinrich Campendonk, eben­falls ein STURM-Künstler, hier lebte und als Mitglied der Künstler:innen-Gruppierung ‚Der Blaue Reiter‘ und der ‚Neuen Sezession‘ gute Kontakte nach München unterhielt, dürfte den Ausschlag für ihre Orts­wahl gegeben haben.

Im August 1919 zog Fritz Stuckenberg nach Seeshaupt, wo er bis Mai 1921 blieb. Aus dieser Zeit sind 84 Briefe erhalten, die die Distanz zu Paul van Ostaijen in Berlin über­brückten. Sie zeichnen ein sehr lebendiges Bild vom Privat­leben und den avant­garden Ambitionen dieser Künstler, die schreibend und malend nach neuen Aus­drucks­weisen für eine sich rasant wandelnde Gesell­schaft suchten. Dass die zwei in Berlin ent­standenen Gedicht­bände Paul van Ostaijens, ‚Die Feste von Angst und Pein‘ und ‚Besetzte Stadt‘, im letzten Jahr durch die Über­setzerin Anna Eble und den Schrift­steller Matthijs de Ridder neu heraus­gebracht wurden, ver­einfacht den Zugang zu den Sprach­werken des flämischen Lyrikers. Sein Blick auf die Stadt an der Schwelle zwischen Kaiser­reich und Demo­kratie ist von einer beeindruckenden Offen­heit. Er begegnete dem Ende der Monarchie mit einem sprachlichen Trümmer­feld, das erste Anstalten macht, sich neu zu konstituieren. Paul van Ostaijen ent­wickelte eine Poesie, die die Gesetze der Grammatik, der Syntax und Typo­grafie ignorierte. Aber er versuchte zugleich ihre Frag­mente auf einen kreativen Nähr­boden zu streuen.

Obwohl Fritz Stuckenberg in den kommenden Jahren andauernde Existenz­sorgen hatte, war er in dieser Zeit künstlerisch äußerst produktiv. Ein zentrales Thema seiner Werke ist die sexuelle Ekstase, die für ihn Aus­druck kreativer Energie war. In kubistischer Abstraktion werden verschlungene Körper in Bewegung versetzt und mit kosmischen Sphären assoziiert. Nicht immer reichte das Geld für Lein­wände, im Winter konnte er das un­beheizte Atelier nicht nutzen und so emanzi­pieren sich die Farben im kleineren Aquarell-Format zunehmend von der Form. Während Fritz Stuckenberg mit der Farb­autonomie in der abstrakten Malerei experimentierte, erprobte Paul van Ostaijen ver­gleich­bares in der Poetik. In dieser Künstler­freund­schaft war Heinrich Campendonk ein ruhender Pol. Er profitierte von seinen frühen Ver­bin­dungen zum ‚Blauen Reiter‘ und war in der Berliner und der Münchner Kunst­welt gleicher­maßen anerkannt. Er unterhielt her­vor­ragende Kontakte zu privaten Sammlungen, Museen und Galerien. Und obwohl er sich für die Ideen Paul van Ostaijens begeistern ließ, mied er bindende Ver­pflich­tungen. Aus den Plänen zur Gründung einer neuen Künstler:innen-Gruppe, hielt er sich raus. Aber Paul van Ostaijen und Fritz Stuckenberg tauschten sich sehr rege über mögliche Mit­streiter aus oder suchten nach einem passenden Namen. Fritz Stuckenberg schlug am 8. April 1920

„die Eiferer, die Leuchtenden, die Entrückten“

vor und Paul van Ostaijen antwortete am 12. April 1920:

„Eiferer finde ich zu naiv; die Leuchtenden zu pretentiös und die Entrückten zu welt­fremd.“

Seine Alternativen:

„der Gong (das g vorne und hinten, wie das klingt) oder der Kataklump. Diese Namen sind nicht lächerlich zu machen, ohne dass der betreffende Kritiker sich lächerlich macht.“

Den künstlerischen und brieflichen Konversationen in Seeshaupt und Berlin unter dem Titel ‚Kataklump‘ eine Ausstellung zu widmen, ist eine späte Realisierung ihrer Pläne.

Es ist faszinierend zu beobachten, dass diese Freund­schaften bis heute zu Verbindungen unter den nachlass­verwaltenden Institutionen führen. Die städtischen Sammlungen in Delmen­horst und in Penz­berg, die große Werk­konvolute von Fritz Stuckenberg und Heinrich Campendonk auf­bewahren, erlebten bereits in den 1990er Jahren unter der Leitung von Barbara Alms und Gisela Geiger einen regen Leih­verkehr. Und so lag es für das aktuelle Ausstellungs­projekt nahe, diese Verbindung wieder zu aktivieren. Annette Vogel, Leiterin des Museum Penzberg, hat meine Ausstellungs­idee auf­gegriffen und das Projekt nicht nur mit wichtigen Leih­gaben unterstützt. Es ist im nächsten Jahr auch eine zweite Station in Penzberg geplant, für die wir Werke von Fritz Stuckenberg auf Reisen schicken werden. Das Letterenhuis in Antwerpen und einige private Sammlungen ergänzen diese Ausstellung mit lyrischen und typo­grafischen Werken aus dem Kosmos Paul van Ostaijens. Ein großer Dank gebührt der Privatsammlung Köln / Cloppenburg und der Familie Stuckenberg, die ganz selbst­verständlich wichtige Werke und Doku­mente zur Verfügung stellten. Ohne die Nieder­sächsische Sparkassen­stiftung, die ein großes Werkkonvolut von Fritz Stuckenberg als Dauerleihgabe an die Städtische Galerie in Delmenhorst übergeben hat, wäre diese Ausstellung nicht möglich gewesen. Hier möchte ich mich namentlich bei Johannes Janssen und Ulrike Schneider bedanken, die im Verbund mit der Landes­sparkasse zu Olden­burg Ausstellungen an unserem Haus regel­mäßig und groß­zügig fördern. Mit der gleichen Aus­dauer unterstützt der Freundeskreis Haus Coburg e. V. seit über 30 Jahren das Programm und die Profilierung der Städtischen Galerie in Delmenhorst.

Lena Reichelt gebührt mein Dank für die kuratorische Betreuung der Ausstellung, die grafisch durch Kay Bachmann geprägt wurde. Viktor Hömpler hat gemeinsam mit Christine Claussen und Ruben Lyon diese digitale Publikation entwickelt, die die Präsentation über die Laufzeit der Ausstellung hinaus sichtbar machen wird, aber hoffentlich nicht davon abhält, die Ausstellung und das Haus Coburg zu besuchen.

Matilda Felix
Direktorin, Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst

Fokus: Fritz Stuckenberg

Fokus: Fritz Stuckenberg

Lena Reichelt
Kuratorin der Ausstellung, Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst

„Ja ich fahre sobald wie möglich“ 1.6.1920, Paul van Ostaijen

Im Mai 1919 zog Fritz Stuckenberg gemeinsam mit seiner schwangeren Freundin, der Künstlerin Erika Deetjen, genannt Liane, nach Seeshaupt. Hier lebte er bis August 1921. Die Idee, in den kleinen ober­bayerischen Ort am Starnberger See zu ziehen, fällt in eine Zeit der gesellschaftlich-politischen sowie künstlerischen Auf­bruchs­stimmung, die in den Nach­kriegs­jahren durch die November­revolution und den Nieder­gang des Kaiser­reichs in Deutsch­land bestimmt war. In Kunst­kreisen mani­festierte sich dies unter anderem in der Gründung des Arbeiter­rats für Kunst oder der November­gruppe, Zusammen­schlüssen von Künst­ler:innen und Kunst­schrift­steller:innen, die Volk und Kunst vereinen wollten. Gleich­zeitig hatte sich insbesondere die jüngere Künstler:innen-Generation auf die Suche nach neuen Aus­drucks­formen zwischen abstrakter und gegen­ständ­licher Bild­sprache begeben. Verschiedenste avant­gardistische Tendenzen entstanden beziehungs­weise entwickelten sich weiter.

Fritz Stuckenberg, der seit 1912 nach längerem Frank­reich­aufenthalt in Berlin lebte, hatte 1916 die enge Anbindung an den STURM-Kreis um den Kunst­händler und Galeristen Herwarth Walden gefunden. Durch ihn war er in der Berliner Kunst­szene bestens vernetzt und hatte sich an einigen Ausstellungen beteiligen können. Doch den dadurch ersehnten künstlerischen Durch­bruch und somit eine finanzielle Un­abhängig­keit erreichte er nicht.

In dieser Zeit entschied Fritz Stuckenberg, nach Seeshaupt um­zu­ziehen, die Gründe waren viel­fältig: Die Kriegs- und Nach­kriegs­jahre hatten zu einem Versorgungs­eng­pass in der Groß­stadt geführt. Auf dem Land wollte der Künstler den prekären Lebens­umständen in Berlin ent­kommen, sicherlich auch vor dem Hinter­grund der Familien­gründung mit Freundin Erika Deetjen. Des Weiteren hatten auch Un­stimmig­keiten über Bild­verkäufe zu einem Bruch mit Herwarth Walden geführt und Fritz Stuckenberg suchte nach neuen Perspektiven als Maler.

Seeshaupt erschien passend, denn der Ort erweckte in diesen Jahren den Ein­druck, zu einer Künst­ler:innen-Kolonie zu avancieren. Die Künstler Heinrich Campendonk, jüngstes Mitglied des ‚Blauen Reiters‘, der nach München und ins Rhein­land sehr gut vernetzt war, sowie Jean-Bloé Niestlé wohnten bereits seit 1916 hier. Fritz Stuckenberg und Heinrich Campendonk waren sich aus dem Um­feld Herwarth Waldens in Berlin bereits bekannt. Spätestens aber mit dem Besuch Paul van Ostaijens bei Heinrich Campendonk in Seeshaupt im Juli 1919, der ihm aus Bayern schrieb, war die Entscheidung getroffen.

Fritz Stuckenberg erhoffte sich durch den Umzug einen Neu­anfang, doch seine Erwartungen auf bessere Lebens­umstände und den künstlerischen Durch­bruch sollten sich nicht erfüllen. Vielmehr war sein Aufent­halt in Seeshaupt von Wider­sprüchen geprägt: Trotz immer wieder auf­keimender Schaffens­krisen verlebte er rück­blickend eine künstlerisch sehr produktive Zeit in Bayern. Trotz wirtschaft­licher Erfolg­losig­keit, er ver­kaufte nur wenige Werke, konnte er einige Ausstellungs­beteiligungen ver­zeichnen – etwa im Jenaer Kunstverein, bei Goyert in Köln oder Flechtheim in Düsseldorf. Zudem war er auf­fallend gut in der zeit­genössischen Kunst­szene vernetzt.

Sein künstlerisches Schaffen in der Seeshaupter Zeit zeugt von Viel­fältigkeit und Hetero­genität. Er bewegte sich, wie viele Künst­ler:innen seiner Generation, zwischen Figuration und Abstraktion. Doch entgegen zahl­reicher seiner Zeit­genoss:innen, lässt sich bei Fritz Stuckenberg keine kontinuierliche Entwicklung hin zu einer rein abstrakten Formen­sprache finden, viel­mehr experimentierte er mit verschiedenen bild­nerischen Verfahren und bewegte sich kontinuierlich zwischen gegen­stands­loser und gegen­ständ­licher Malerei.

Aufgrund seiner prekären finanziellen Situation in Seeshaupt, er lebte auf engstem Raum mit Frau und Kind und hatte im Winter kein Geld, sein Atelier zu heizen, nutzte er intensiv das Medium der Aquarell­malerei. Immer wieder bemalte er Vorder- und Rück­seite seiner Aquarelle, Lein­wände und Rahmen waren schlicht zu teuer. Spontanität, emotionaler Gestus sowie Explosion von Farbe und Form, wobei die Form der Farbe untergeordnet bleibt, zeigen sich anschaulich in den Arbeiten ‚Explosion‘, 1919 oder in ‚Rot jubelt, 1920.

Gleich­zeitig faszinierten ihn kubistisch-geometrische Formen. So konzentrierte er sich beispiels­weise in seinem Aquarell ‚Leichte Formen‘ von 1920 auf das Grund­element des Kreises, die hier sowohl isoliert im Raum schweben als auch mit­einander ver­schmelzen. In der Arbeit ‚Mechanik‘ von 1919 hin­gegen dominiert ein rein konstruktiver Bild­aufbau, bestimmt von geometrischen Farb­flächen, die fast mauer­artig ineinander­greifen.

Symbolistisch-komisch aufgeladen ist zugleich das Werk ‚an Mynona‘, dass Fritz Stuckenberg 1919 dem Dichter und Philosophen Salomo Friedländer widmete. Dieser signierte seine Schriften mit Mynona, dem Ana­gramm von anonym. Die Zeichnung veranschaulicht die damals in avant­gardistischen Kreisen vor­herrschende Idee einer kosmisch-spirituellen Welt­anschauung, der Suche nach individueller Spiritualität in gleich­zeitigem Ein­klang von Mensch und Universum.

Darüber hinaus hatte er sich bereits vor der Geburt seines Sohnes intensiv mit dem Thema der Weib­lich­keit aus­einander­gesetzt, wie in der Litho­grafie ‚Weib‘ ersichtlich wird. Zur weiteren Intensivierung dieses Themen­schwer­punktes wird sicherlich auch der Kontakt zu Heinrich Campendonk in Seeshaupt eine Rolle gespielt haben, denn dieser widmete sich während dieser Jahre in zahlreichen Holz­schnitten sehr intensiv der Darstellung des weiblichen Aktes in der Natur. Weitere Einfluss­nahme auf die künstlerische Aus­druck­weise Stuckenbergs war schließlich die Geburt seines Sohnes in Seeshaupt und dadurch die neue Rolle seiner Freundin als Mutter. Dies zeigt sich in der Litho­grafie in ‚Die Kreisende‘, deren Mittel­punkt ein geometrisch abstrahierter, schwangerer Frauen­körper bildet.

Die enge Freundschaft zu Paul van Ostaijen und dessen Freundin Emma Clément, genannt Emmecke, die die Stuckenbergs im Sommer 1920 besuchen, inspirierte Fritz Stuckenberg hingegen zu erotisch, fast schon sexuell auf­geladenen Arbeiten. Er war fasziniert und angezogen von Emma Clément, besprach erotische Details über sie in den Brief­wechseln mit Paul van Ostaijen und auch seine Freund­schaft zu diesem schien im Sommer 1920 über eine rein platonische Beziehung hinaus­gegangen zu sein, wie die erhaltenen Briefe andeuten.

Es entstanden erotisch-sexuell aufgeladene Werke, wie eins der wenigen Gemälde aus dieser Zeit, ‚Erotisches Still­leben‘, eine unbetitelte Litho­grafie oder die Zeichnung ‚Umarmung‘. Arbeiten in denen organische Formen einander um­spielen, ein enges Zueinander suchen, sich zu etwas Neuem zusammen­fügen, wie in einem Liebes­spiel. Diese künstlerische und thematische Vielfältigkeit der Seeshaupter Jahre steht exemplarisch für Fritz Stuckenbergs gesamtes Schaffen, dessen Oeuvre von heterogener Komplexität zeugt.

Die erhoffte Zufrieden­heit und der Erfolg als Künstler stellten sich in Seeshaupt entgegen den vorherigen Erwartungen nie ein. Trotz seiner als Künstler sehr produktiven Zeit blieb die finanzielle Unabhängig­keit aus. Während einer sehr intensiven Schaffens­krise zerstörte er sogar bereits fertig­gestellte Werke. Er litt unter der Abgeschiedenheit in Seeshaupt im Vergleich zu seinen vorherigen Erfahrungen in der Berliner Kunst­szene. Vor diesem Hinter­grund entschloss er sich schließlich im Verlauf des Frühlings 1921, gemeinsam mit Frau und Kind zurück zu seinen Eltern nach Delmenhorst zu ziehen.

Biografie Stuckenberg

1881 Friedrich Bernhard Stuckenberg wird in München geboren
1893 Familie Stuckenberg zieht nach Delmenhorst, Fritz Stuckenbergs Vater wird kauf­männischer Direktor der Hansa Linoleum-Werke
1900 Architekturstudium in Braunschweig für ein Semester
1902 Lehre bei dem Theatermaler Adolf Grüger in Leipzig
Privatunterricht bei dem Portraitmaler Anton Klamroth
1903 Studium an der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule in Weimar bei Ludwig Hofmann
1905 Aufenthalt in München
1907–1912 Umzug nach Paris
Austausch mit den Künstler:innen des Café du Dôme
Ausstellungsbeteiligungen in Paris und Deutschland
1912–1916 Wohnhaft in Berlin
Bekanntschaft mit Herwarth Walden
Aufnahme in den STURM-Kreis
1915 Eheschließung mit der Malerin Margot Hänsler
1916 Wehrdienst als Landsturmmann
1919–1921 Wohnhaft in Seeshaupt, Bayern gemeinsam mit Freundin Erika Deetjen, genannt Liane
Ausstellungsbeteiligungen in zahlreichen deutschen Städten, darunter Berlin, Dessau, Stuttgart, Jena, Darmstadt, Köln, Hamburg und Halle, sowie international in Chicago, New York und Amsterdam
1919 Mitglied im Arbeitsrat für Kunst und der Novembergruppe
1920 Scheidung von seiner ersten Frau Margot Haenseler
Eheschließung mit Erika Deetjen und Geburt des Sohnes Andreas Paul
1921–1941 Wohnhaft in Delmenhorst
Kontakt zum Bauhaus in Weimar
Ausstellungsbeteiligungen in Deutschland, Amsterdam, USA und Moskau
1921 Klinikaufenthalt in Bremen wegen Erkrankung des zentralen Nervensystems
Scheidung von seiner Frau Erika Deetjen, die mit dem gemeinsamen Sohn nach Berlin zieht
1924 Eheschließung mit Sophie Schildknecht
1931 Geburt des Sohnes Adolf Johannes
1937 Diffamierung als „entarteter“ Künstler und Beschlag­nahmung von seinen Werken aus dem Bestand des Landesmuseums Oldenburg
1941 Umzug nach Horn bei Füssen
1944 Tod des Sohnes Andreas Paul im Zweiten Weltkrieg
18.5.1944 Fritz Stuckenberg stirbt in Horn bei Füssen

Fokus: Paul van Ostaijen

Fokus: Paul van Ostaijen

Paul van Ostaijen
und die Suche nach einer neuen Poesie

Matthijs de Ridder
Autor, Flämisch-niederländische Organisation deBuren

Paul van Ostaijen (1896 – 1928) reiste im Herbst 1918 mit seiner Freundin Emma Clément nach Berlin, auf der Flucht vor der Geschichte und auf der Suche nach einem Neu­anfang. Dort, in der revolutionären Haupt­stadt, lernte er bald eine Gruppe gleich­gesinnter Künstler:innen kennen, darunter Lyonel Feininger, Erich Heckel und Fritz Stuckenberg. Sie waren wie er begeistert auf der Suche nach neuen Formen für eine noch unbekannte Welt.

Paul van Ostaijen fiel durch seinen unstill­baren Hunger nach neuen künstlerischen Ideen und seine unerschütterliche Über­zeugung auf, dass die Kunst beim Auf­bau des Nach­kriegs­europas eine wichtige Rolle zu spielen hatte. Vor allem für Fritz Stuckenberg war der Elan des flämischen Dichters wie eine frische Brise. Umgekehrt fand Paul van Ostaijen in ihm einen Künstler, der das künstlerische Experimentieren genauso ernst nahm wie er. Anfang 1919 stürzten sie sich mit Begeisterung in die Erkundung neuer Formen und Ideen. Fragmente davon finden sich im unveröffentlichten Gedicht ‚Frits Stuckenberg‘ von Februar 1919:

„Wellen Welten die Welt. Walzen.
Sie wälzen sich um ihre eigene Achse. 
Sie wälzen sich und wachsen.
Drehen. Sein. Drehendes Dasein.
Kugel!!! Sphäre.
Eins zwei drei. Von drei Punkten aus bauen.
Immer höher klettert die Pyramide auf die Sphäre.“

Das Gedicht beginnt als suchende Beschwörung von Fritz Stuckenbergs ebenso suchenden Gemälden aus dieser Zeit, wie sich anschaulich in dessen Werk ‚Astrale Konstruktion‘ zeigt.

Es windet sich alles umeinander – Kreise, Kugeln, Sphären – als ob es um die Geburt des Universums ginge. Doch der Belgier hält sich nicht lange damit auf, die Welt auf völlig abstrakte Weise darzustellen. Eine Kugel wird sofort mit drei Ausrufe­zeichen versehen, was darauf hin­deuten könnte, dass es sich um eine Gewehr­kugel handelt. Im weiteren Verlauf sehen die wandernden Himmels­körper verdächtig nach Menschen aus, die sich erwartungs­voll an­ein­ander vorbei­bewegen und manch­mal, in einem ekstatischen Moment, in­einander und wieder aus­einander. Die Suche nach Verein­heit­lichung erweist sich als vergeb­lich, so schreibt Paul van Ostaijen in einer Zeile, die jeglicher Emotion ent­behrt und deshalb umso härter trifft:

„Einsamkeit ist ein geometrisches Prinzip.“

Mit dieser einen Zeile ist eigentlich alles gesagt. Die Mensch­heit ist eine Ansammlung von einsamen Kreisen, die manchmal fried­lich und manchmal rasend durchs Leben gehen, für immer zu einer rotierenden Bewegung verdammt.

Mit dem Gedicht ‚Frits Stuckenberg‘ machte Paul van Ostaijen einen großen Schritt. Die Pathetik des humanitären Expressionismus war noch nicht ganz verschwunden, aber er entfernte den letzten Rest von Romantik aus seiner Poetik. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Im Dialog mit Malern wie Fritz Stuckenberg beschloss Paul van Ostaijen, dass Gedichte nur dann wirklich modern sein können, wenn sie eine ebenso komplexe Beziehung zur Realität ein­gehen wie die Malerei.

Obwohl Paul van Ostaijen ‚Frits Stuckenberg‘ nicht in ‚Die Feste von Angst und Pein‘ aufnahm, tauchte in diesem Gedicht ein weiteres Element auf, das für dieses Manus­kript von großer Bedeutung ist: Der existenzielle Tanz wurde zum Haupt­thema des Buches. 

Dass Tanzen viel mehr als eine Mode­erscheinung war, erfuhr Paul van Ostaijen im Spät­sommer 1919, als Fritz Stuckenberg Berlin gegen Seeshaupt in Bayern ein­tauschte. Zum Abschied tauchten der Maler und der Dichter für ein paar Tage in das Berliner Nacht­leben ein. Seit die Stadt­behörden im Früh­jahr 1919 versucht hatten, das Tanzen zu verbieten, war das Nacht­leben weit­gehend in den Unter­grund gegangen. Paul van Ostaijen sah plötzlich, warum. Die Menschen suchten hier nicht so sehr den Rausch der Bewegung zur Musik. Auf der Tanz­fläche setzten sie sich mit ihrer eigenen Körper­lich­keit und mit ihrer Sterb­lich­keit aus­einander. So kurz nach dem Krieg war dies viel mehr als nur ein angenehmer Zeit­vertreib: Hier fand eine grund­legende Selbst­reflexion statt.

So wächst in dem Fritz Stuckenberg gewidmeten Gedicht ‚Meta­physischer Jazz‘ der modernste aller Tänze zu über­ragenden Aus­maßen heran. Die Zeile „Wir Stepper inkognito“ klingt noch irgendwo am Anfang des Gedichts, als ob Paul van Ostaijen und Fritz Stuckenberg wie namen­lose Zuschauer das Geschehen beobachten. Doch schon bald drängt sich die über­wältigende Bedeutung der modernen Musik auf. Der Einfluss amerikanischer Spirituals findet seinen Wider­hall im wieder­holten „The Lord is my Life“, und mit der neuen Instrumentierung, denn die zerbrochenen Geigen werden durch Banjos und Holz­latten ersetzt, rast das ganze zeit­genössische Leben durch den Tanz­saal. Der Jazz wächst all­mählich in die Ver­heißung hinein, dass die Tore von Zion fallen werden und so die prophezeite Stadt gegründet werden kann.

Fritz Stuckenbergs Abschied war ein schwerer Schlag für Paul van Ostaijen. Er musste zusehen, wie ein guter Freund und treuer Verbündeter aus seinem Alltag verschwand. Aber bei seiner ständigen Suche nach neuen Formen bot der Umzug nach Seeshaupt auch Chancen.

Noch bevor sein Freund seine Sachen gepackt hatte, waren Paul van Ostaijen und Emma Clément bereits im Sommer 1919 nach Seeshaupt gereist, um den Maler Heinrich Campendonk zu besuchen, der seit 1916 hier lebte. Auch zwischen Paul van Ostaijen und dem Letzten der legen­dären ‚Blauen Reiter‘ entwickelte sich eine besondere Verbindung, sie fanden künstlerisch voll­kommen zueinander: Heinrich Campendonk zwang Paul van Ostaijen dazu, sein Denken über moderne Kunst zu erweitern. Dieser Maler war nämlich nicht so sehr auf Abstraktion, Konstruktion oder das wirbelnde moderne Leben aus. Heinrich Campendonks Werk evozierte bei ihm auf eine ganz andere Weise Spannung. Diese ergründete Paul van Ostaijen in ‚Zwei länd­liche Gedichte für Heinrich Campendonk‘.

Die Gedichte ‚Land Abend‘ und ‚Land Ruhe‘ sind keine Beschreibungen vorhandener Gemälde, sondern poetische Annäherungen an die besondere Aus­arbeitung von Heinrich Campendonks Bilder­welt. Nichts ist so, wie es scheint, zeigt Paul van Ostaijen. Ein zuschlagendes Garten­tor am Anfang von ‚Land Abend‘ weckt eine Reihe von Assoziationen zu einer Welt weit jenseits der bayerischen Land­schaft. Und auch in der näheren Umgebung stimmen Menschen, Tiere und Gegenstände nicht ganz mit ihrem äußeren Erscheinungsbild überein:

„Zuschlagendes Gartenschloss 
                        und 
    bellender Hund 
        klimper Kette klirren 
            springender Hund 
                tanzender Hund 
                    Spring Tanzender Hund 
    Tanz von Hund vor Mond 
von Mond besessener Hund 
in Mond Höherer Hundstanz 
                        HUNDSTANZ“

Ein Hund bellt, rennt bei dem Geräusch los, zerrt an seiner Kette und springt auf den Besucher zu. In der nächsten Zeile ist aus dem Springen des Hundes bereits ein Tanz geworden. Der Tanz wird zu einem Mondtanz und bekommt eine zunehmend magische Bedeutung. Der Tanz wird zu einem „Höherer Hundstanz“, der im weiteren Verlauf des Gedichts immer mächtiger wird. Dort verliert sich ein Baum, der im Mond­licht steht, ebenfalls in einem Tanz. Er wird zu einem „in Mond verlorner Baum“, der auf einer „in Mond vergehnde Erde“ steht. 

Am Ende des Gedichts ist nichts mehr so, wie es am Anfang zu sein schien. Genau das, so Paul van Ostaijen, war Henrich Campendonks Stärke. Der Maler stellte sich seiner Meinung nach ständig die kantische Frage, wie erkenn­bar die Wirklich­keit eigentlich ist. In dieser Umarmung des scheinbar Unwirklichen öffnete Heinrich Campendonk den Weg zum Unvermuteten.

Diese künstlerische Erfahrung war für Paul van Ostaijen das letzte Puzzle­stück, das er für seine Sammlung ‚Die Feste von Angst und Pein‘ brauchte, um den ängstlichen Tanz durch das unwirkliche Nachkriegs­europa zu beschreiben.

Biografie van Ostaijen

22.2.1896 Leopoldus Andreas van Ostaijen wird in Antwerpen geboren
1914 Erste erhaltene handschriftliche Gedichte entstehen
1916 ‚Music-Hall‘ erscheint im Selbstverlag
1917 Beziehung zu Emma Clément
Festnahme während einer Demonstration in Antwerpen gegen den anti-flämisch eingestellten Kardinal Mercier
1918 Publikation von ‚Ekspressionisme in Vlaanderen‘ und dem Gedichtband ‚Het Sienjaal‘
1918 Verurteilung zu drei Monaten Gefängnis
Flucht nach Berlin
1918–1921 Wohnhaft in Berlin
Bekanntschaft mit zahlreichen Künstler: innen und Autor:innen
Tätigkeit als Kunsthändler für Fritz Stuckenberg
Publikation zu Heinrich Campendonk in der Zeitschrift ‚Valori Plastici‘
1921 Publikation ‚Bezette Stad‘
Trennung von Emma Clément
Umzug nach Antwerpen
Haftstrafe wird auf Grund des Amnestie-Gesetzes erlassen
Verfassen der Schriften ‚De Feesten van Angst en Pijn‘, Band erscheint posthum
Einzug zum Wehrdienst mit Stationierung in Issum im Ruhrgebiet
1923 Kurzer Aufenthalt in Deutschland mit Versuch, als Buch- und Kunsthändler zu arbeiten
Eröffnung einer Kunsthandlung im Elternhaus mit finanzieller Unterstützung seines Bruders
1924 Tätigkeit als Buchhändler und Übersetzer in Antwerpen
erste Übersetzung von fünf Prosatexten von Franz Kafka außerhalb Tschechiens
Diagnose einer Lungenkrankheit
1925 Reise nach Berlin
Publikationen der Grotesken ‚De trust der vaderlandsliefde‘
Tätigkeit als Geschäftsführer der Brüsseler Galerie ‚A la Vierge Poupine‘
1926 Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Kunsthändler im Elternhaus
Publikation der Grotesken ‚Het bordeel van Ika Loch‘
1927 Verschlechterung des Gesundheitszustandes
Umzug in ein Sanatorium in Miavoye-Anthée
18.3.1928 Paul van Ostaijen stirbt in Miavoye-Anthée

Fokus: Heinrich Campendonk

Fokus: Heinrich Campendonk

Gisela Geiger
Ehemalige Direktorin, Museum Penzberg – Sammlung Campendonk 2007–2019

„Campendonk est un chic type“ Fritz Stuckenberg, 21 Aug 1919

Im Oktober 1911 reiste der 21 Jahre junge Heinrich Campendonk auf Einladung von Franz Marc, Wassily Kandinsky und August Macke nach Ober­bayern. In Krefeld hatte er die Kunst­gewerbe­schule besucht und bei seinem Lehrer, dem Belgier Jan Thorn Prikker, eine umfassende Aus­bildung genossen. Schwer­punkte waren Komposition sowie theoretisches und vor allem praktisches Verständnis von Farbe im Sinne des Neo­impressionismus. Diese Aus­bildung hatte Heinrich Campendonk sich erkämpfen müssen, da das klein­bürgerliche Eltern­haus in der freien nur eine „brot­lose“ Kunst erkennen konnte. Aber der Wunsch nach Anerkennung, die ihm der Vater verweigerte, ließ in ihm die Haltung wachsen: unermüdlich „arbeiten und nicht ver­zweifeln“.

Auch in Bayern, wo er zu dem damals sich gerade formierenden Kreis der Künstler um den Almanach ‚Der Blaue Reiter‘ stieß, wusste sich Heinrich Campendonk zu behaupten. Er lebte wie Franz Marc in dem kleinen Ort Sindels­dorf, nicht weit entfernt von Murnau, wo Wassily Kandinsky und Gabriele Münter wohnten. Zudem war München mit weiteren befreundeten Künstlern der Avant­garde gut erreichbar. Er blühte auf in seiner Arbeit und die neue Umgebung löste einen ungeheuren Entwicklungs­schub in ihm aus: mit den bahn­brechenden Arbeiten der deutlich älteren und fort­geschritteneren Künstler­freunde, mit deren Gesprächen und natürlich dem großen Naturerlebnis des Vor­alpen­landes. Sie gaben dem jungen Mann Orientierung und vermittelten wichtige Kontakte in die Kunst­welt. Durch die gemeinsamen Ausstellungen wurden die Avantgarde-Galerie DER STURM von Herwarth Walden ab 1912 zu seiner Vertretung, und der Mäzen des ‚Blauen Reiters‘, der Berliner Industrielle Bernhard Koehler, zum treuen Sammler und Förderer.

Mit Ausbruch des Ersten Welt­kriegs löste sich die Gruppierung auf, und vor allem der Tod des Freundes Franz Marc im Mai 1916 warf Heinrich Campendonk auf sich selbst zurück. Damit war für ihn aber auch der herausfordernde Moment gekommen, die eigene künstlerische Position selbständig zu bestimmen. Noch 1916 zog er mit seiner Frau Adda und dem kleinen Sohn Herbert nach Seeshaupt. Sie konnten die Hälfte eines großen Hauses mieten und zusätzlich noch einen separaten Atelier­raum. Hier folgte für Heinrich Campendonk eine überaus intensiv genutzte Zeit konzentrierter künstlerischer Arbeit. Jetzt widmete er sich auch wieder der Technik des Holz­schnitts: Darin erkundete er das strenge Spiel von Linie und Fläche, von Kontur und Form, von der Komplementarität bedruckter und offener Partien. Daraus resultierte eine strengere Stilisierung der Darstellung, so wie sich auch sein Blick für die technischen Möglich­keiten der Aquarell­malerei schärfte. Die Resultate zeigten sich gerade in den Papier­arbeiten der folgenden Jahre und führten generell zu neuen, komplexen Formen der Bild­konstruktion. Es ist dies die Zeit, da seine besten Arbeiten entstehen, in der sein Name an Bekannt­heit und Renommee gewinnt.

Seeshaupt, ein Dorf an der Süd­spitze des Starnberger Sees, ist etwa 50 Kilometer von München entfernt. Es war bereits seit Mitte des 19. Jahr­hunderts mit dem Dampfer und später der Eisen­bahn für Ausflügler und Sommer­frischler gut erreichbar. Auch für viele Künstler war – und ist – der Ort mit seiner pittoresken Lage am See und vor der eindrucks­vollen Berg­kette mit Zug­spitze und Karwendel ein gesuchter Wohn­ort, denn umgekehrt war auch München mit seinem kulturellen Leben, Galerien und Museen von hier aus leicht erreich­bar. Es gab viel Besuch im Hause Campendonk: Künstler­freunde, Sammler, Galeristen.

Mit Fritz Stuckenberg war Heinrich Campendonk schon als STURM-Künstler bekannt, in mehreren Ausstellungen waren ihre Werke neben­einander gezeigt worden. Zu ihrer ersten persönlichen Begegnung kam es vermutlich in Berlin 1916. Aber die Beziehung zwischen ihnen verlief nicht harmonisch. Vor allem irritierte Heinrich Campendonk Stuckenbergs Hoch­mut in der Aus­einander­setzung mit Herwarth Walden, in der chaotischen Phase nach dem Waffen­still­stand. Vor Fritz Stuckenberg war schon Paul van Ostaijen mit seiner attraktiven Freundin Emma Clément im Juli 1919 in Seeshaupt. Aus dem lockeren und freund­schaft­lichen Ton­fall der Briefe, die Heinrich Campendonk danach an Paul van Ostaijen schrieb, erschließt sich, welch besondere Erfahrung für ihn in dieser Begegnung lag. Fritz Stuckenberg folgte den beiden für zwei Urlaubs­wochen im August zusammen mit seiner neuen Freundin, der Malerin Erika Deetjen. Er schrieb an Paul van Ostaijen,

„Campendonk est un chic type“.

Dauer­haft gewann er aber einen anderen Eindruck, als er im Oktober nach Seeshaupt übersiedelte. Als Maler stand er grund­sätzlich in Konkurrenz zu Heinrich Campendonk und musste dessen wirtschaft­lichen und künstlerischen Erfolg aus der Nähe miterleben.

„Wie ist Campendonk zu beneiden.“

Heinrich Campendonk konnte unter mehreren Angeboten von Galerien auswählen und verkaufte auch ohne diese oftmals sehr gut an seine privaten Sammler – für Fritz Stuckenberg hingegen wurde seit der Trennung vom STURM das Geld knapp. Und vor allem verfolgten beide auch künstlerisch völlig verschiedene Ansätze. Gab es 1919 noch Lob von Heinrich Campendonk für das Gemälde ‚Umarmung‘, so charakterisiert er Anfang 1920 das, was ihm von Fritz Stuckenberg und seinen Freunden an abstrakten Arbeiten zu Gesicht kommt, als „leichtes, ober­flächliches“ Spiel im Gegensatz zu seiner eigenen „ernsten“ Arbeit. Je mehr sich die Form der abstrakten Werke auflöste, desto größer wurde Heinrich Campendonks Reserve. So entzog er sich immer wieder Fritz Stuckenbergs Anfragen und Vorschlägen zum Werk­tausch. Paul van Ostaijen schrieb daraufhin, dass er hier einen

„Technik-Superioritätswahn“ 2 Feb. 1920, PvO to FS

befürchte. Für Fritz Stuckenberg in seinen zunehmenden Schwierig­keiten – mit Vermieter­familien, die Freundin und Kind ohne Trau­schein nicht akzeptierten, den Geld­problemen, der Hinderung an künstlerischer Arbeit durch die äußeren Bedingungen und vor allem der erotischen Zer­reiß­probe durch die starke sexuelle Hingabe an Paul van Ostaijen – waren Heinrich Campendonk und seine Kunst nur bourgeois und er fühlte sich durch ihn von Sammlern und Galeristen wie Katherine Dreyer bewusst fern­gehalten und aus­gebootet. Ostaijen dagegen schrieb:

„Camp. bleibt für mich ein Freund den ich sehr schätze. Rationell, bewusster Künstler und in keiner Beziehung bürgerlich. Kolossale Opposition gegen jeden Versuch ihn ins Bürgerliche hineinzuzwingen. Frau C.: sie und er lieben „Händeküsserei“ nicht; – schön, dann unterlasse ich es. Nicht so einfach“ 4 Oct. 1920, PvO to FS

Sicher machte es auch einen deutlichen Unterschied, dass Paul van Ostaijen seine Begeisterung für Heinrich Campendonks Arbeiten in einem Aufsatz niederlegte und dafür ein Honorar kassierte. Paul van Ostaijen widmete Heinrich Campendonk zwei Gedichte ‚Gnomedans‘ und ‚Melopee‘. Letzteres hat Heinrich Campendonk in drei verschiedenen Arbeiten bildlich umgesetzt – hingegen wurde der schon im Juli 1919 eingeleitete Tausch von Aquarellen mit Stuckenberg nie mit einer Gegen­gabe beantwortet.

„Für jetzt bin ich glücklich, daß ich Dich ganz habe. Daß ich mit Dir keine Geheimnisse habe. D.h. daß Dein Zittern mein Zittern ist, daß Dein Haß mein Haß ist, Deine Extase mein Wahnsinn! Wie unglaublich groß ist das!“,

schrieb Fritz Stuckenberg am 19. Januar 1920 an Paul van Ostaijen. Beide schätzten die künstlerische Arbeit des anderen hoch, standen in einer leiden­schaftlichen und innigen Beziehung zueinander, kämpften zusammen in immer neuen Anläufen um ihre Position im Mahl­werk des Kunst­betriebes der damaligen Zeit – und gingen darin unter. Fritz Stuckenberg kehrte im Mai 1921 zurück in sein Elternhaus, Paul van Ostaijen verließ zur gleichen Zeit Berlin Richtung Brüssel. Für Heinrich Campendonk ließ ein Mäzen in Krefeld ein Haus erbauen, in das die Familie Anfang 1923 einzog. Paul van Ostaijen war aus Belgien hier vielfach zu Gast.

Biografie Campendonk

3.11.1889 Heinrich Mathias Ernst Campendonk wird in Krefeld geboren
1904 Lehre an der höheren Fachschule für Textilkunde in Krefeld
1905–1909/10 Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Krefeld
künstlerische Ausbildung bei Jan Thorn-Prikker
enge Freundschaft zu Helmuth Macke
erste Kontakte zur Neuen Künstlervereinigung in München
Bekanntschaft mit Adelheid Deichmann
1910 Gehilfe des Historienmalers Schnelle in Osnabrück
1911 Vermittlung an den Galeristen Alfred Flechtheim in Düsseldorf durch Wassily Kandinksy
Vertrag mit Flechtheim über monatlich eine Zeichnung
1911–1916 Wohnhaft in Sindelsdorf, Bayern
Freundschaft unter anderem zu Franz Marc und Wassily Kandinsky
jüngstes Mitglied im Blauen Reiter
Ausstellungsbeteiligungen
Bekanntschaft zu Kunsthändler Bernhard Köhler
1912 Besuch in Berlin
Bekanntschaft mit Herwarth Walden
1913 Eheschließung mit Adda Deichmann
1915 Geburt des Sohnes Herbert
1915/16 Kurzer Wehrdienst im 3. Bayerischen Infanterieregiment in Augsburg
krankheitsbedingte Entlassung
1916–1921 Wohnhaft in Seeshaupt, Bayern
Ausstellungsbeteiligungen
1918 Geburt der Tochter Gerda
Mitglied im Arbeitsrat für Kunst und der Novembergruppe
1919 Loslösung von Walden
Vertrag mit Inhaber des Frankfurter Kunstkabinetts Zingler
1921 Kurze Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule Essen
1923–1933 Wohnhaft in Krefeld
Lehrtätigkeit im Fach Flächenkunde an der Kunstgewerbeschule Essen
Ausstellungsbeteiligungen in Deutschland und den USA
1926–1933 Professor für Glas- und Wandmalerei an der Kunstakademie Düsseldorf
1934 Emigration nach Belgien und weiter in die Niederlande
1935–1957 Professor an der Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam
1937 Diffamierung als „entarteter“ Künstler und Beschlag­nahmung von seinen Werken aus Museumsbeständen
1942 Verpflichtung zum nächtlichen Wachdienst durch deutsche Besatzungstruppen
1951 Einbürgerung als Niederländer
9.5.1957 Heinrich Campendonk stirbt in Amsterdam

Das Projekt Künstlergruppe

Das Projekt Künstlergruppe

Matilda Felix
Direktorin, Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst

 „Nun zu Deinem Projekt. Famos!“ 3.3.1920, Fritz Stuckenberg

Mit der Gründung einer Künstler:innen-Gruppe verfolgten Fritz Stuckenberg und Paul van Ostaijen zwei gemeinsame Ziele. Sie suchten in der Kunst ein avant­gardes Potenzial und erklärten dies zur Bedingung für die Teil­nahme an ‚Kataklump‘. Zugleich entwarfen sie ein Modell, mit dem sie ihren Lebens­unterhalt sichern konnten. Die Exklusivität der Gruppe sollte auf der freund­schaft­lichen Ver­pflicht­ung gründen, alle anderen Verbindungen auf­zu­geben und aus­schließ­lich gemein­sam aus­zu­stellen. Sie hatten bei diesen Plänen zwei Vereinigungen vor Augen, die vor dem Ersten Welt­krieg erfolg­reich wirken konnten: Die Brücke und der Blaue Reiter. Beide waren programmatisch offen gegen­über allen Kunst­richtungen, die sich vom akademischen Stil abhoben. Das Ziel der Brücke fasste Kirchner auf einem Holz­schnitt zusammen: „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Geniessenden rufen wir alle Jugend zusammen. Und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebens­freiheit verschaffen gegenüber den wohl­angesessenen, älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittel­bar und unverfälscht wieder­gibt, was ihn zum Schaffen drängt.” (1906) Der Erste Welt­krieg beendete beide Bewegungen. Einige Künstler:innen mussten Deutsch­land verlassen, andere wurden zum Kriegs­dienst eingezogen und alle Versuche, die Gruppen nach dem Krieg wieder zu aktivieren verliefen im Sande.

Als 1918 die November­revolution zum Waffen­still­stand und zur Ab­dankung des Kaisers führte, stellte der Zerfall der Monarchie ein politisches Macht­vakuum her, in dem sich die Lage schnell zuspitzte. Die auf Rüstungs­produktion umgestellte Wirtschaft, Inflation und steigende Lebens­mittel­preise hatten bereits 1915 zu Hunger­krawallen geführt. Bei Kriegs­ende war die allgemeine Versorgungs­lage in Deutsch­land katastrophal. Paul van Ostaijen war ein politischer Mensch. Er hatte in Antwerpen die Besetzung der Stadt durch die wilhelminischen Truppen erlebt und engagierte sich in der Autonomie­bewegung Flanderns. 1917 wurde er auf einer Demonstration gegen den franko­phonen Kardinal Mercier verhaftet und wegen Aktivismus verurteilt worden. Um einer Gefängnis­strafe zu ent­gehen, floh er im Oktober 1918 nach Berlin und erlebte hier das Kriegs­ende. Die politischen Unruhen in der fremden Stadt, vor allem die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919, schockierten ihn. Während er in Antwerpen Kunst und Poesie noch als revolutionäre Bewegung verstand, die das Volk in der Aus­gestaltung einer idealen Gesell­schaft geistig anführten, realisierte er in Berlin die grenzen­lose Naivität dieser Haltung. Er gab sein politisches Engagement voll­kommen auf und widmete sich der „reinen Lyrik.“ Anknüpfungs­punkte fand er bei den Künstlern des Expressionismus und der malerischen Abstraktion.

Auch für Paul van Ostaijen wird DER STURM zu einer Adresse, an der er auf Gleich­gesinnte trifft. Aber durch den politischen Wandel stehen den Künstler:innen nun Optionen offen.

In Berlin bildete sich der ‚Arbeits­rat für Kunst‘, der die gesellschaft­liche Bedeutung von Architektur und ihre Rolle in der Gestaltung einer neuen Gesell­schaft hervor­hob. Auch die Künstler:innen-Vereinigung November­gruppe, am 3. Dezember 1918 gegründet, verschrieb sich der politischen Arbeit und der Demokratisierung des Kunst­betriebs. Nach dem Zerwürfnis mit Herwarth Walden war Fritz Stuckenberg in beiden Gruppierungen organisiert, ihm fehlte allerdings eine effektive Vertretung auf dem Kunst­markt. In klarer Konkurrenz zum STURM positionierte sich das Graphische Kabinett von J. B. Neumann. Hier fand die erste dada-Ausstellung Deutschlands statt, an der Fritz Stuckenberg und Erika Deetjen beteiligt waren. Offenbar zufällig trafen Paul van Ostaijen und Fritz Stuckenberg den Galeristen im KadeWe, als sie 1919 Silvester in Berlin feierten. Kaum ist Fritz Stuckenberg wieder in Seeshaupt, schrieb er an J. B. Neumann:

„Ich habe mit Freude festgestellt, daß Sie mit mir die Meinung vertreten, daß in Berlin etwas geschehen muß, um der abstrakten Kunst links Ihres Programms eine würdigere Vertretung zu schaffen, als es durch Walden geschieht.“ 14.1.1920, FS an JBN

Im gleichen Brief legte er ihm nahe, Paul van Ostaijen mit dieser Aufgabe zu betreuen:

„Er ist unter allen Umständen der beste, meiner Ansicht nach der Einzige, der heute in Deutsch­land weiß, was Expressionismus ist.“

Tatsächlich kam es im Februar zu konkreten Plänen: Neumann sagte eine Investition in Höhe von 25.000 Mark zu. Die gleiche Summe wollte Paul van Ostaijen von seinem Bruder leihen, um eine Ausstellung zu finanzieren. Stuckenberg und Topp sollten ihren Anteil in Form von Kunst­werken beisteuern. Aber schnell zeigte sich, dass 50.000 Mark nicht ausreichten, um in Berlin einen geeigneten Raum anzumieten. Aber mehr wollte Neumann nicht investieren und auch die angefragten Maler zögerten, sich von Walden loszusagen. Georg Muche fragte vorsichtig nach:

„… ob Sie Gründe zur Annahme haben, das wirtschaftlicher Nutzen für uns wahrscheinlich ist. An der ideellen Harmonie zu einem günstigen Gelingen zweifle ich nicht, …“ 19.2.1920, FS an PvO

Nach vielen Briefen und Gesprächen zieht Paul van Ostaijen im April

„Bilanz: Campendonk und Klee nicht, Muche und Molzahn nicht, bleiben Du, Arno, Boddien. Nicht genug um eine Gruppe zu bilden.“

Seine Konsequenz ist eine deutliche Absage:

„Kurz: Aus der Sache wird nichts! Warum? Weil es den Malern piepe es.“ 12.04.1920, PvO an FS

Diese Enttäuschung und die Trennung von seiner Lebens­gefährtin Emma Clement führen schließlich dazu, dass Paul van Ostaijen aus Berlin abreist.

„Ich habe Deutschland satt. Habe meinen Paß zurück nach Belgien beantragt. Ich bin bereit, Mercier und Soldaterei auf mich zu nehmen.“

Schreibt er im Mai 1920 an seinen Verleger de Bock. Im gleichen Monat zieht auch Fritz Stuckenberg nach Delmenhorst, wo er seinen Lebens­unterhalt durch die finanzielle Unterstützung seiner Eltern sichern kann.

Georg Muche und Arnold Topp

Lena Reichelt
Kuratorin der Ausstellung, Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst

„Ostaijen, Topp, Muche, Stuckenberg, die 4 Namen tönen gut.“ Fritz Stuckenberg, Januar 1920

Georg Muche, geboren 1895 in Querfurt, hatte in München an einer privaten Kunst­schule Malerei studiert und sich hier intensiv mit den Werken von Wassily Kandinsky und Paul Klee aus­einander­gesetzt. Im Jahr 1914 zog er nach Berlin, wo er abstrakt zu arbeiten begann und sich dem STURM-Galeristen Herwarth Walden vor­stellte. Dieser, beeindruckt von Georg Muches architek­tonisch an­gelegten und voller lebendiger Farbig­keit sprießender Malerei, berief ihn 1916 an seine neu­gegründeten STURM-Kunst­schule als Leiter der Abteilung Malerei.

Arnold Topp, 1887 in Soest geboren, hatte an der Kunst­gewerbe­schule in Düsseldorf studiert und begann 1913 in Branden­burg an der Havel als Zeichen- und Sport­lehrer zu arbeiten. Er war vermutlich seit seinem Studium mit Herwarth Walden bekannt. Nach seinem Umzug an die Havel festigte er diesen Kontakt mit regel­mäßigen Besuchen in Berlin.

Beide Künstler gehörten zum engen Kreis um Herwarth Walden und blieben mit ihm, wie viele andere auch, während ihrer Wehr­dienst­zeit im Ersten Welt­krieg in engem Austausch.

Fritz Stuckenberg hatte Georg Muche im Februar 1916 in Berlin kennen­gelernt und durch ihn die Bekannt­schaft mit Herwarth Walden geschlossen. Auch Arnold Topp begegnete er in diesem Umfeld.

Paul van Ostaijen kam mit beiden Künstlern in seinen ersten Berliner Jahren um 1918 in Kontakt. Er stand Georg Muche und seiner rein abstrakten Malerei, entgegen Fritz Stuckenberg, zunächst kritisch gegenüber. Erst Ende 1919, nach­dem sich Georg Muche verstärkt einer gegen­ständlichen Formen­sprache zugewandt hatte, und kurz bevor er dem Ruf von Walter Gropius ans Bauhaus folgte, begann Paul van Ostaijen sich für ihn zu begeistern:

„Glaube nun nicht dass ich Muches Arbeit besser finde, um persönliche Motiven. Andersrum wäre richtig. Als ich gesehen habe dass seine Arbeiten bedeutend besser waren als die aus der Mozart­periode (…). Was er gar nicht hatte sucht er jetzt (…)“ Dezember 1919, PvO an FS
Von Arnold Topps sehr farb­intensiver kubistischer Formen­sprache voller figurativer und architek­tonischer Elemente war Paul van Ostaijen hin­gegen seit ihrem Kennen­lernen über­zeugt. So entstand im Januar 1920 die Idee, Georg Muche und Arnold Topp in die Gründung einer Künstler:innen-Vereinigung mit gemein­samen Aus­stellungen einzubinden.
„Ostaijen, Topp, Muche, Stuckenberg, die 4 Namen tönen gut“,
antwortete daraufhin Fritz Stuckenberg Ende Januar 1920.

Doch zu der geplanten Zusammen­arbeit kam es nicht, da Georg Muche im Gegen­satz zu Fritz Stuckenberg und Arnold Topp dem STURM-Kreis eng verbunden blieb und sich weiterhin von Herwarth Walden vertreten ließ.

Freundschaft, Libido, Kreativität

Freundschaft, Libido, Kreativität

Lena Reichelt
Kuratorin der Ausstellung, Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst

„Paul, ich küsse Dich … In inniger Liebe Dein René“ Fritz Stuckenberg, 1920

Seit ihrem ersten Kennen­lernen 1918 im Umfeld des STURM-Galeristen Herwarth Walden bestand zwischen Fritz Stuckenberg und dem 15 Jahre jüngeren Paul van Ostaijen eine enge intellektuelle und künstlerische Verbindung. Während Fritz Stuckenbergs Aufent­halt in Seeshaupt zwischen 1919 und 1921 intensivierte sich die Freund­schaft und entwickelte sich spätestens ab Herbst 1919, nachdem Fritz Stuckenberg Paul van Ostaijen in Berlin besucht hatte, über eine rein platonische Verbindung hinaus. Anfänglich noch freund­schaftliche Anreden weichen zunehmend innigeren Formulierungen wie „Ich sehne mich nach Dir“ oder „Ich küsse Dich“. In einem bisher unveröffentlichten und Fritz Stuckenberg gewidmetem Gedicht schrieb Paul van Ostaijen:

„Verwachsen. Leiber ineinander, auseinander. Kein Hermaphrodit, aber zwei Leiber ein. Zwei eins.“

Dieses Verwachsen von Leibern, die sich mittels organischer Formen ineinander­fügen, thema­tisierte Fritz Stuckenberg als Motiv der Umarmung in zahl­reichen Werken aus den Jahren 1919 bis 1921. Erotisch auf­geladene Darstellungen des einzelnen weiblichen und männlichen Körpers wie in den Litho­grafien ‚Mann‘ und ‚Weib‘ greift der Künstler ebenso auf, wie sich in der Umarmung findende und verschmelzende Körper in ‚Betende‘ und ‚Wildnis‘. In der Zeichnung ‚Umarmung‘ und schließlich in ‚Erotisches Still­leben‘, einem der wenigen Gemälde aus den Seeshaupter Jahren, findet die Vereinigung ihren Höhe­punkt. Organische Formen verbinden sich in fließenden Bewegungen und scheinen untrennbar ineinander verschlungen.

Doch empfanden die Männer nicht nur eine gewisse Anziehung füreinander, auch die Partnerinnen waren Teil dieser Verbunden­heit. Insbesondere Fritz Stuckenberg war von van Ostaijens Freundin Emma Clément, genannt Emmecke, fasziniert:

„Daß aber Emmecke eine Frau ist, bei der Du ohne Hemmungen zu den unerhörtesten sexuellen Flammen kommen kannst, scheint mir sehr wahrscheinlich (…). Mir ist das versagt (…). Deetjen liebt romantisch, und hat nicht die Selbst­verständlichkeit des Sexuellen.“ 19.1.1920, FS an PvO

Im Sommer 1920 besuchten Paul van Ostaijen und Emma Clément die Stuckenbergs in Seeshaupt. Was sich bei diesem Auf­einander­treffen der Paare ereignete, bleibt unklar, jedoch betonte Paul van Ostaijen im Anschluss an seinen Besuch:

„Ich bin nun einmal nicht homo­sexuell veranlagt. Damit muß man sich abfinden“ 18.8.1920, PvO an FS

worauf­hin Fritz Stuckenberg antwortete:

„Homo­sexuell bin ich nicht mehr und nicht weniger als Du.“ 22.8.1920, FS an PvO

Ob und wie intim die Paare in diesem Sommer unter­einander wurden, kann nur vermutet werden, doch verändert sich die Beziehung im Verlauf des Spät­sommers eindeutig zurück zu einem freund­schaftlichen Austausch. Ihre zuvor fast tägliche Kommunikation wurde mit Fritz Stuckenbergs Umzug nach Delmenhorst und Paul van Ostaijens Weg­gang aus Berlin 1921 weniger und verringert sich bis zum Tod des Flämischen Dichters 1928 auf nur wenige Briefe pro Jahr.

Avantgarde und Kunstbetrieb

Avantgarde und Kunstbetrieb

Matilda Felix
Direktorin, Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst

„c’est le commencement de la fin“ 1920, Paul van Ostaijen

Als Fritz Stuckenberg sich im Dezember 1918 von Herwarth Walden trennte, war der DER STURM nicht nur eine Galerie und ein Verlag. Während sich der Erste Welt­krieg negativ auf die meisten Galerien aus­wirkte, die inter­nationale Kunst an­boten, vor allem französische, expandierte Herwarth Walden seine Unter­nehmungen: 1916 er­öffnete er eine Kunst­schule, 1917 eine Buch­handlung, 1918 ein Theater und einen Ver­anstaltungs­ort für Konzerte und Lesungen. Hinzu kamen zahl­reiche STURM-Ausstellungen in Europa. Der Grund für diese positive Geschäfts­ent­wicklung war, dass Herwarth Walden seine Reisen, Ausstellungen und Kontakte in die Nieder­lande und nach Schweden nutzte, um für das Aus­wärtige Amt zu spionieren. Dieser durch Archiv­material belegte lukrative Neben­verdienst ist in der Literatur mit dem Label ‚STURM-Nachrichten­büro‘ eingeführt. Wenn Herwarth Walden im Aus­land unter­wegs war, schickte er regel­mäßig Berichte über die politische Stimmung an das Deutsche Kaiser­reich und sorgte zugleich im Aus­land dafür, dass Deutsch­land sich durch die avant­garde Kunst als welt­offener und moderner Staat dar­stellen konnte. Zugleich wurde die Organisation der Ausstellung erheblich erleichtert, da der Staat bei Fracht­papieren, Zoll­gebühren und Reise­genehmigungen half und die STURM-Galerie für ihre Dienste bezahlte. Herwarth Walden verfügte in den Kriegs­jahren über Werk­konvolute von Künstler:innen, die in den Kriegs­dienst ein­gezogen wurden oder Deutsch­land verlassen mussten, da sie aus dem feind­lichen Aus­land stammten. Nach Kriegs­ende waren die Werke verkauft, ohne dass sich nach­voll­ziehen ließ, ob die Künstler:innen angemessen am Gewinn beteiligt wurden. In dieser Frage prozessierten beispiels­weise Marc Chagall und Wassily Kandinsky gegen Herwarth Walden. Für Fritz Stuckenberg waren nicht nur die Finanzen ein Grund, den STURM zu kritisieren. Er monierte auch die schwindende Qualität. An den Kunst­händler J. B. Neumann schreibt er am 14. Januar 1920:

„Es ist ein unhalt­barer Zustand, daß im Sturm die besten Arbeiten der Expressionisten mit der Arbeit der süßen Nell [Walden] etc. verwurstelt werden.“

Auch Paul van Ostaijen beschwerte sich über die expandierende Musealisierung des Expressionismus:

„Tatsache ist: Wenn so weiter­gewirtschaftet wird, ist mit dem Expr. aus. Gesicherte Lebens­stellung für Maler und Kinder: C’est le commencement de la fin. Und eine Produktion, lieber Gott! Von Breslau bis Berlin. Ein Museum für Expressionismus-Kubismus und Futurismus!!“ 18.2.20, PvO

Seine eigenen Versuche als Händler für ausgewählte Künstler:innen auf­zu­treten, die sich von Herwarth Walden abwendeten, blieben ohne nennens­werte Verkaufs­erfolge. Lyonel Feiniger plante die Gründung eines Bundes deutscher Expressionisten und wollte Paul van Ostaijen hier unter­bringen. Eine Anstellung in der neuen Ab­teilung der National­galerie, beim ‚Kunstblatt‘ von Paul Westheim oder eine Stelle als flämischer Vertreter im ‚Arbeits­rat der Kunst‘ standen eben­falls im Raum, nichts davon ließ sich realisieren. Paul van Ostaijen lebte vor allem vom Ver­dienst seiner Lebens­gefährtin Emma Clément, die in einem Mode­haus angestellt war.

„All diese elenden Geld­geschichten verbittern einem die besten Augen­blicke des Daseins“,

schrieb Fritz Stuckenberg am 11. Januar 1920 an seinen Freund Paul van Ostaijen nach Berlin. Seine existenziellen Sorgen standen im Wider­spruch zur Ausstellungs­präsenz seiner Werke. Auch nach seiner Trennung von Herwarth Walden war er bei wichtigen STURM-Ausstellungen vertreten – 1919 in Berlin, Dessau und Stuttgart. Im Jahr 1920 zeigte Walter Dexel im Kunst­verein Jena 24 Werke von Fritz Stuckenberg, zusammen mit Paul Klee und Johannes Molzahn. Mit der ‚November­gruppe‘ stellt Fritz Stuckenberg 1920 in Karlsruhe, Berlin, Darmstadt und Halle aus. Er lernte Katherine Dreier kennen, eine wichtige Sammlerin aus den USA, die europäische Kunst nicht nur kaufte, sondern für Ausstellungs­tourneen in den Staaten sorgte und Fritz Stuckenberg in New York und Chicago präsentierte.

In Deutschland ist Fritz Stuckenberg 1920 in Berlin, Dresden, Düsseldorf, Gumbinnen, Hamburg, Hagen, Insterburg, Stuttgart und München zu sehen. Wichtige Einzel­ausstellungen hatte er 1920 bei der Kunst­handlung Wilhelm Goyert in Köln und 1921 in der Galerie Nierendorf in Bonn. Zugleich gab es Annährungen an das Bau­haus. Seine Hoffnungen auf eine Anstellung gehen zwar nicht in Erfüllung, er ist aber mit einer Original­grafik in der Dritten Bauhaus-Mappe vertreten, eine lang­fristig wichtige Referenz.

Die Ausstellung

Kataklump

Heinrich Campendonk, Paul van Ostaijen, Fritz Stuckenberg
Haus Coburg | Städtische Galerie Delmenhorst
18. Mai – 18. August 2024